Die Wunde Leben


Früh hatte die Malerei mich gepackt, und nicht nur Narrenhände beschmierten mit Kreide Tisch und Wände, sondern die Klosterschwestern der Gnadenthal-Schule in Ingolstadt förderten auch die künstlerische Begabung des Kindes nach Kräften. Ein berufliches Leben in der Kunst aber schien mir später, als junger Frau, die gerade dem Krieg entkommen war, den Vater verloren, und zu Hause eine kranke Mutter liegen hatte, überhaupt nicht im Rahmen innerer und äußerer Möglichkeiten zu liegen – der Drang zum Studium der Medizin war daher um vieles stärker.

Erst nachdem ich das Studium beendet, zwei Kinder geboren, meinen Mann jung verloren, die Ausbildung zur Psychoanalytikerin abgeschlossen und meine eigene Praxis eröffnet hatte, drängte mit Macht die Notwendigkeit künstlerischen Schaffens zurück in mein Leben. Ich nahm das Studium der Malerei wieder auf, fand mir wichtige Lehrer und Meister, schuf große, starke Bilder, die Kreuzserie, den Flucht-Zyklus und zahllose Einzelbilder, und schließlich entstand die Serie Pietà, die für mich künstlerisch wie persönlich zu einem Weg- und damit Entscheidungspunkt wurde.
Der große Zweifel, der ausgerechnet in Verbindung mit der Entstehung der Pietà – Serie aufkam und immer weiter anwuchs: Was war wesentlich? Was lag hinter meiner Suche, in der Kunst, in der therapeutischen Arbeit, im Leben? Wo lag der Sinn? Nicht die inhaltliche Interpretation der trauernden Madonna mit ihrem toten Sohn, sondern durch sie die Suche nach Wesentlichkeiten meines Lebens war das Thema geworden.
Wohin also in der Kunst? Wie musste mein Leben vorangehen? Wie weiter in meinem Beruf als Psychotherapeutin? Es war in dieser Zeit des großen, freien Zweifelns, als ich meine Reise zu einer ostsibirischen Schamanin unternahm.

Nach einer endlosen Eisenbahnfahrt über Berlin, Moskau und Nowosibirsk, während der Tundra, vereiste Dörfer, dampfende Städte, weiße Wälder und verschwommene, unfaßbar weite Landschaften wie in einer tagelangen Meditation am Bewußtsein vorbeiflogen, erreichte ich Nischneangarsk und schließlich per Bus das kleine vergessene Dorf am Baikalsee. Rast für ein paar Tage in der bescheidenen, aber gut geheizten Pension im Zentrum, und dann, als auch die innere Uhr die geographische Zeitzone erreicht hatte und die Seele endlich gemeinsam mit dem Körper am Frühstückstisch saß um sich an Leber, Fisch, Butter und köstlicher Marmelade zu laben, legte ich den Löffel zur Seite und machte mich auf. Schneidende Kälte. Eine Gruppe Männer hat ein Feuer unter dem Motor eines Lastwagens entfacht, um ihn starten zu können. Der blaugraue Himmel lag wie eine halbe Metallkugel über der Welt. Als ich die tiefgefrorene Luft einzog tauchten plötzlich Bilder von unserer Flucht aus Schlesien im klirrenden Winter 1945 auf. Meine Mutter, gerade verwitwet,versuchte mit uns drei kleinen Mädchen im Viehwaggon nach Westdeutschland zu gelangen. Die Frauen, deren Säuglinge während dieser Fahrt erfroren waren, mußten sie unbegraben auf dem festgeeisten Bahndamm liegen lassen. Die warme Hand meiner Mutter.

Der Lastwagen sprang an, und die Männer stiegen lachend auf. Wie begrub man hier die Toten?
Tief in den dicken Mantel gehüllt, erreichte ich das schräge Holzhaus am Dorfrand. Ich klopfte, und eine winzige, wohl 100-jährige Greisin öffnete, blickte mich lange an, nahm dann meine kalten Hände und zog mich in das Dunkel des Hauses.
Ein zweites Frühstück neben dem glühenden Holzofen in der Küche – mit Gurken, Fisch, trockenem Fleisch, Zwiebeln, saurer Sahne, einer kleinen Pastete, dunklem Brot und einem Honigfass, neben dem zwei kleine Löffelchen lagen.
Langes Schweigen, und diese zwei hundertjährigen Augen, deren lächelnder Blick meine Seele augenblicklich zur Ruhe brachte, als ob eine starke Hand ein inneres Pendel angehalten hätte.
Und der Schamanenritus?
„Nimm noch eine Gurke, und laß‘ nichts von dem Fisch übrig!“ Und dann, langsam, als ob jedes Wort aus einer tiefen Wärme aufstieg:
„Ich weiß, weshalb du gekommen bist. Du suchst nach dem Sinn deines Tuns und nach deiner dir verbleibenden Aufgabe. Und, du trauerst, wie alle Menschen trauern. Aber nicht alle Menschen wissen, daß sie trauern.“ Sie machte eine lange Pause, nahm meine Hand in ihre kleinen, verknöcherten Hände voll tiefer Kerben, blickte mich lange an, und ich begann zu weinen. Nach einer Weile ließ sie meine Hand los und fuhr fort: „Christine! Der wirkliche, der tiefe Sinn allen Lebens ist Heilung. Von Beginn seines Lebens an strebt der Mensch nach Heilung vom Trauma der eigenen Existenz. Alles menschliche Handeln, das in Kontakt mit dem inneren Sein geschieht, ist in Wirklichkeit der Versuch von Heilung.“

Sie hielt inne. Ihre Augen ruhten auf mir, und ich sah in zwei unterirdische Seen, die unbewegt in ihren großen vorzeitlichen Höhlen lagen.
„Du wirst mit keinem Menschen über unsere Begegnung sprechen. Schreiben darfst du, aber nicht sprechen. Die Zunge ist schlechte Hüterin des Schatzes. Und du wirst niemandem entdecken, wo du mich gefunden hast.“ Ich nickte.

„Das Leben ist eine Wunde. Und wie die Tiere suchen wir immer und immer den Kontakt zu dieser Wunde und zu diesem Schmerz, denn nur wenn wir den Schmerz wahrnehmen und im Kontakt mit unserer Wunde stehen, leben wir. Die Wunde ist das Leben. Die Menschen wissen nicht, daß all ihr Handeln und Streben der vergebliche Versuch einer Heilung von der Wunde des Lebens ist. Sie essen und trinken und klammern sich gegenseitig an ihre Genitalien in der Hoffnung, den unendlichen Schmerz zu lindern und den großen Knoten zu lösen. Doch die wenigsten halten diesen Schmerz aus, sie betäuben sich und sterben so einen vorzeitigen Tod bei lebendigem Leib – sie trinken, völlen, kaufen, sehen fern. Diese Betäubungsmittel lindern zwar den Schmerz, aber sie heilen nicht. Die Wunde des Lebens wächst an, weil das Leben anwächst, und wenn wir nicht im Kontakt mit ihr bleiben, wird sie sich uns entziehen, wird eitern und uns schließlich vergiften.   In Wirklichkeit ist aber die Heilung die einzige Aufgabe des Menschen, und jeder Schritt, jeder Gedanke, den wir im Kontakt mit unserem wirklichen Ich fassen, ist ein Versuch von Heilung. Man darf sich ihr nicht entziehen. Wir dürfen den Blick nicht abwenden. Heilung strengt an, Heilung kostet Kraft. Nimm von dem Honig!“

Ich tauchte wie sie einen kleinen Löffel in das Honigfaß, das Gold zerging auf der Zunge und floß langsam den Rachen hinunter.

„Doch Heilung wovon?“ „Es ist die nackte  Existenz, die uns verzweifeln läßt – nicht etwa der Tod. Die große Wunde ist unser Leben, und jede unserer Handlungen bringt neue Verletzung uns und den anderen. Nicht Nicht Handelnist daher die Lösung, sondern der Handlung den Sinn der Heilung zuerkennen. So treten wir in Kontakt mit unserer Wunde, also mit uns selbst, also mit dem Leben. Wenn du andere heilen möchtest, ist eine einzige Aufgabe sie in Kontakt mit ihrer eigenen Wunde zu bringen – denn sie sind krank, weil sie diesen Kontakt verloren haben. Wenn du anderen den Kontakt zu ihrer Wunde vermitteln kannst, hast du ein Ziel erreicht.
Doch paß auf, daß du dich nicht zu sehr auf das Heilen anderer konzentrierst.  Auch hier kann eine Ablenkung liegen. Vergiß nicht: es geht immer um dich selbst, es geht immer um deine Wunde, um dein Leben. Alles steht allein in deiner Macht.
Blicke auf deine Wunde, und dann entscheide was zu tun ist. Verliere keine Zeit, lenke dich nicht aus Bequemlichkeit ab, und verausgabe dich nicht. Du musst in Beziehung zu deiner Wunde handeln.“
Ich weinte. Wir schwiegen lange. Der glühende Ofen schien tanzen zu wollen.

„Und die Kunst?“ fragte ich schließlich.
Sie lächelte, als hätte sie die Frage lang erwartet.
„Alle Kunst besitzt höchste Heilkraft. Für den Schaffenden, wenn es ihm gelingt, aus dem Kontakt mit seiner eigenen Wunde zu kreieren, und für den Betrachter, wenn es in berührt, ihn also in Kontakt mit seiner eigenen Wunde bringt. Die Kreation ist eine der höchsten Heilungshandlungen. Du wirst das Entstehende nie gedanklich erfassen können – aber je mehr es aus dem Schmerz deiner Wunde entsteht, desto höhere Heilkraft wird es haben.
Weine also, weine. Je stärker und kraftvoller du deine Wunde pflegst, umso mehr wirst du leben, bis die Zeit der letzten großen Heilung kommt. Verliere keine Zeit bis dahin, denn du hast nur noch einen Wimpernschlag übrig.
Bleib jetzt für drei Tage bei mir, du brauchst mich. Wir werden nicht sprechen. Dann wirst du abreisen, und dein Leben wird anders sein.“
Als ich nach Deutschland zurückkam, blickte ich verwandelt auf meine Bilder. Als ich die Pietà – Serie wiedersah, war es mir, als ob ich langjährigen, alten Freundinnen wieder begegnete. Ich sprach lange mit den Bildern, ich erzählte ihnen von meiner Reise und von meinen Gedanken während der Rückfahrt, und sie antworteten mir so beredt, als ob sie das alles schon längst gewusst hätten. Lange saßen wir so beieinander. Dann begann ich, eine neue Leinwand aufzuspannen, mischte die Farben, der Pinsel fuhr über den rauen Stoff.


Christine Zohner | christine.zohner.com | christine@zohner.com