23. Juli bis 24. September 2020, München


Die blaue Stunde
Neue Bilder von Christine Zohner



Jede Regel hat nur Bedeutung innerhalb des Individuums.
Ausserhalb ist Chaos.
Und Kunst.


Obwohl die letzten Strahlen dieser unwirklichen Sonne diagonal durch das kleine Fenster fielen, war es dunkel in der Hütte. Es gab einen kleinen Abzug über dem Feuer, doch hingen Fäden dünnen blauen Rauches im Raum, die, zu Leben erweckt durch die Wärme der drei Personen, über ihren Köpfen kryptische Zöpfe zur Decke hinauf flochten.
Tashi war dabei, scharfe Fleischstückchen mit Zwiebeln in einem Topf aus Kupfer zuzubereiten. Ihre Mutter Peldon saß zu meiner Linken auf einem hölzernen Sessel, der winzig war wie sie selbst.

Warum, Peldon, scheint das Leben so voller Wirrungen? Es muß einen Sinn geben. Wohin kann ich mich wenden, um ihn zu finden?

Lange saßen wir still.

Einen Sinn hat es nie gegeben, und doch hat die Menschheit seit ihren Anfängen sich an ihn geklammert.
Im letzten großen Krieg ist dann alles endgültig zerbrochen, und es zerbricht weiter und wird fortfahren zu zerbrechen. Nichts hat mehr Bedeutung.
Da ist nichts Absolutes, nichts allgemein Gültiges mehr, alle Orientierung ist verloren. Die Detonation der Atombombe hat Milliarden von irrlichternden, hilflos stammelnden Individuen zurückgelassen, und was jetzt an Sinn noch übrig sein mochte, hat seit Hiroshima in minutiöser täglicher und nächtlicher Arbeit die Wissenschaft in ihrem immer präziser und frenetischer stösselnden Mörser pulverisiert.
Die einzige Bedeutung, die noch existiert, ist die, die wir selbst projizieren.
Hier entsteht wohl unsere vornehmste Aufgabe: den Dingen, Pflanzen, Tieren, Menschen, Gedanken und ihren Zusammenhängen Sinn zu geben.
Erst dann kann, mühsam, Stück für Stück die Verständigung zwischen den Menschen wieder aufgebaut werden.
Alles hängt von dir ab.


Nähe ist, ähnliche Bedeutungen wie der Andere
für das Innere und für das Umgebende zu finden.




Tashi brachte drei kleine Schüsseln mit Fleisch, eine große mit Reis stellte sie auf den niedrigen quadratischen Tisch in unsere Mitte. Wir aßen schweigend, die Gewürze trieben mir Tränen in die Augen.
Lange saßen wir.
Tashi erhob sich. Ich bedankte mich für die Mahlzeit, sie nahm die Schüsseln und verließ lautlos den Raum.

Erst wenn ich male, begreife ich.
Es sind die Striche, die mich denken machen, die Farben, die mich fühlen lassen.


Die wertvollste Kraft ist das Schweigen. Alles beginnt dort. Wenn deine Kunst nicht gelingt, hast du nicht lange genug geschwiegen.

Woher die Angst, Peldon?

Was dir nicht hilft, laß gehen. Die Angst steht dir nicht zu Diensten, also entlasse sie aus deiner Fron.
Wovor Angst haben? Wie ein strahlender Tag dir die blaue Stunde schenkt, überreicht diese dir wenig später die Nacht.

Ich erhob mich, verneigte mich zu ihr und trat hinaus.
Die klare Luft wischte in einem einzigen Moment eine leichte Benommenheit aus meinem Gesicht, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Es war mit dem Sonnenuntergang empfindlich kalt geworden. Die Welt schien das Licht, das sie tagsüber empfangen hatte, in einem tiefen Glühen wieder abzugeben. Die vor mir steil sich in den weiten Himmel aufrichtenden Berge, die Laub- und dann die Nadelbäume am Hang, die Yakherde auf der Koppel zu meiner Linken, und der große Yarlung Tsanpo, der jetzt das aufgeregte Glitzern abgelegt hatte und sich übermüdet in seinem Bett räkelte, kurz vor Verlöschen des Lichtes noch träge mir in Richtung Indien deutend.



Ein Ton stieg in mir auf, der Mund öffnete sich, und meine Stimme begann, zögernd zunächst, dann immer klarer und stärker, in weiten Schwüngen den tiefblauen Himmel, die kohlenschwarzen Wolken, die im Dunkel versinkenden Berge und die in einem astralen Spektrum leuchtenden Blüten der niegesehenen Pflanzen in ein grenzenloses Universum zu malen, Farben aus innersten Tönen, Pinselstriche aus Gesang, die erst weit hinter Alpha Centauri im Sternbild des Löwen sich verloren.




Die blaue Stunde
Neue Bilder von Christine Zohner
ist ein 2020 entstandener Zyklus.
Reisen, Momente, Orte, Erinnerungen, Assoziationen, Fragen, Gedanken.
Ein Strich, die Sonne vier Grad unterhalb des Horizontes, trocknende Farben.


Stadtbereichszentrum Ost, Ausstellungsbereich
Severinstraße 6, D - 81541 München

Ausstellungseröffnung:
23. Juli, 19.00 Uhr (K123110) und 20.00 Uhr (K123111) in zwei Gruppen.

Anmeldung erforderlich.
Begrüßung: Winfried Eckardt, Leitung Stadtbereich Ost der MVHS
Musikalische Umrahmung: Susanne Schoepp

Ausstellungsdauer, Öffnungszeiten
:
23. Juli bis 24. September 2020 · mo bis do 9.00 bis 21.00 Uhr · fr bis 17.00 Uhr
Ausstellungsbesuch nur mit Mund-Nasen-Bedeckung

Veranstaltungsort:
MVHS Stadtbereichszentrum Ost, Severinstr. 6
MVV: U2/U7 Untersbergstraße, Bus 54 Werinherstraße, Tram 18 St.-Martins-Platz

Finissage:
24. September, 19.00 Uhr (K123113), nur mit Anmeldung

Information und Anmeldung:
Telefon (089) 48006-6750 oder online www.mvhs.de/ausstellungen

Gemeinschaftsausstellung von Gerdi Winkler und Christine Zohner






Christine Zohner | christine.zohner.com | christine@zohner.com